Red River Blues

Von Göttern, Geistern und der Macht der Korruption

(Auszug)

Tagelang war die Sonne nicht zu sehen. Ein klebriger milchiggrauer Dunst hing über der Stadt. Nun ist der Himmel wolkenlos blau, was es noch unerträglicher macht. Unter der sengenden Sonne kocht der Asphalt wie auf einem Gasherd. Sogar die Katzen atmen schwer. Die Frauenstimme des Stadtteilradios, die aus den Lautsprechern an den Strommasten plärrt, verkündet wieder und wieder dieselbe Hiobsbotschaft: „Die Staudämme sind leer.“ Strom ist Mangelware. Immer öfter stehen die Ventilatoren still.

 

Wir begegnen uns in dem kleinen Museum des ehemaligen Gefängnisses. Über dem Eingangstor steht immer noch „Maison Centrale“. An den Wänden hängen Bilder eines zerbombten Hanoi. Hier haben die Franzosen diejenigen eingesperrt, die ihrer Kolonialmacht gefährlich werden konnten. Die stolzen Kämpfer für die sozialistische Idee. Trotz Folter und Gewalt haben sie nie ihre Ziele aus den Augen verloren. So zumindest steht es auf den Texttafeln. Wie diese Propaganda anödet. Ich wende mich ab und suche den zweiten Teil der Ausstellung, den, in dem das Leben der amerikanischen Kriegsgefangenen innerhalb dieser Mauern beschönigt wird.

Mit langsamen, schlurfenden Schritten kommt er auf mich zu. Er ist klein und hat diese klapprige blasse Dürre, wie sie nur alte Leute haben. Er stellt sich als Herr Hung vor und kichert. Hung bedeutet Held. Aber nein, ein Held sei er wahrlich nicht. Nur ein einfacher Soldat, sagt er und beginnt zu erzählen. Die Fallschirmjäger hatten sie ins Kreuzfeuer genommen. Das war bei Nam Dinh. Sie lagen in den Feldern am Kanal. Soldaten, Bauern, Frauen, Kinder, die Alten. Auf dem Wasser trieben bäuchlings und rücklings Leichen, verkohlte und aufgequollene Kadaver. Der Tod war überall, er kam namenlos, schwemmte die Menschen einfach weg. Über Funk erhielt er den Befehl, den Kanal zu überqueren. Es gab kein Boot, also schwamm er. Doch er blieb stecken, zwischen den Leichen, den Leichen von Frauen und Kindern. Wie eine Brücke lagen sie da. Und er benutzte sie, er trat auf die Toten, fühlte das weiche, aufgedunsene Fleisch unter den dünnen Sohlen seiner Schuhe. Er fühlt es noch immer. Bei jedem Schritt, den er macht.

Dann sah er sie. Sie starrte ihn an. Ihr Kopf ragte aus dem Wasser, grau wie eine Baumrinde. Ganz langsam trieb sie an ihm vorbei, gleich einer Boje. Es vergeht keine Nacht, in der sie ihn nicht aufweckt. Er wird ihren Blick nicht mehr los.

Ich betrachte Herrn Hungs Gesicht. Seine Augen liegen eingezwängt zwischen tiefen Falten, so als ob er sie ein Leben lang zusammengekniffen hätte. Misstrauisch oder einfach wegen der Sonne. Vermutlich beides.

Später erfahre ich, Herr Hung kommt fast täglich hierher, schleicht durch die Zellen des Gefängnisses auf der Suche nach Fremden, nach Ausländern, denen er ein bisschen von den Qualen in seinem Kopf mitteilen kann. Denn draußen, in der Gegenwart, redet man nicht über den Krieg. Nicht auf diese Weise. Krieg ist noch immer eine Welt der Helden.

 

„Bring uns Entenfleisch, schön knusprig! Und Wasserschnecken mit Schweinefleisch und Kochbananen. Gibt’s noch Tintenfisch? Ja, frittier ihn, mit Chili. Und Seidenraupen. Ach nein, kein Armenfutter. Bring lieber Taschenkrebse, und Shrimps, ja, von den großen, und vergiss’ Salz und Limone nicht. Und wir brauchen mehr Bier.“

Die Nacht kommt mit einem Schlag, ohne Vorwarnung. Es ist nicht mehr heiß, aber angenehm warm. In den Straßen ist eine wilde, betäubende Euphorie zu spüren. Auf den Gehwegen stehen schier endlose Reihen aus niedrigen Stühlen und Tischen. Der Boden ist übersäht mit abgenagten Knochen. Die Gäste palavern und schmatzen. Das Bier ist frisch gezapft. Der Schaum läuft außen an den Gläsern herunter.

Die Jugend flitzt mit ihren Motorrollern um die Seen, verliebt und eng umschlungen. Die Ständer ausgeklappt, so dass sie in den Kurven Funken sprühen. Kinder spielen kreischend Fangen. Lenins Skulptur dient ihnen als Klettergerüst. Familienväter sind unterwegs, Geschäftsleute, Machos mit Drachentätowierungen und Greisinnen, denen der rote Betelsaft in den Mundwinkeln steht. Rosa gepuderte Mädchen stöckeln auf Pfennigabsätzen umher. Fliegende Händler durchkämmen die Gassen. In großblättrigen Mandelbäumen glitzern Leuchtketten. Aus Innenräumen schimmert das grünliche Licht von Neonlampen. Hausbesitzer haben die Türen aufgezogen. Jedes Haus ist ein Laden und die ganze Straße ein einziges großes Geschäft. „Süßer Tofu! Erdnüsse! DVD! Rolex! Eis! Popcorn!“

Die Abende sind wie Karneval. Es ist das Fest eines Volkes, das vor nicht allzu langer Zeit seine Söhne in den Krieg schickte und unter Planwirtschaft darbte. „Kinderleicht“ wird mit dễ như ăn óc chó (so einfach wie Hundehirn essen) umschrieben. Doch über Jahrzehnte war Hundehirn essen alles andere als einfach. Sogar Feldratten waren aus. Reis war ein Festmahl. Und Reisnudeln waren schlichtweg verboten. Bei ihrer Herstellung hätten Nährstoffe verloren gehen können. Nährstoffe, die das Volk dringend brauchte. Es hungerte und zwang so die Regierung, sich auf den Weg zur Marktwirtschaft zu machen. Jetzt gibt es in Hanoi – an den Tagen nach Vollmond, alles andere bringt Unglück – wieder Hundefleisch an jeder Ecke und in allen Varianten. Mit Erdnüssen zur Wurst gestopft, in Chili und Zitronengras gebraten, in Krabbenpaste getunkt, in leicht bittere mơ lông Blätter gerollt. Mit Schnaps hinuntergespült ist es das beliebteste Potenzmittel. „Vitamin wauwau.“

Der weiße Pickup rollt die Straße herunter. Auf einem Klappstuhl auf der Ladefläche sitzt ein Polizist in pfirsichfarbener Uniform, mit Sonnenbrille und blassem Tropenhelm, die Arme vor der Brust verschränkt. Über Megafon befiehlt er: „Aufräumen, Gehwege freimachen.“

Seit einiger Zeit schon propagieren die Stadtväter ein zivilisiertes urbanes Hanoi. Die Leute sollen ihre Nudelsuppe gefälligst drinnen schlürfen und die fliegenden Händler können schauen, wo sie bleiben, solange sie nur das schöne Aussehen der Stadt und den Verkehr nicht mehr stören. Hanoi soll auf internationalen Glanz poliert werden. Sauber, steril und organisiert.

Motorräder, die eben noch den Weg verbarrikadiert haben, verschwinden hinter Haustüren. Frauen mit Lasten über den Schulterstangen huschen in schmale Hausdurchgänge. Überall stehen Menschen mit Tellern und Gläsern in den Händen, während die Besitzer der Garküchen hektisch Tische und Stühle wegschaffen.

Vielleicht hat das Mädchen mit ihrem rollenden Plastikwarengeschäft geträumt oder sie war einfach nicht schnell genug, müde von einem langen heißen Tag. Sie steht mit ihrem Fahrrad mitten auf der Straße. Am Lenker hängen Tüten. Auf der Satteltasche türmen sich grüne Schüsseln über roten Eimern, obenauf thronen blaue Hocker. Auf dem Gepäckträger klemmt ein Mülleimer mit der Aufschrift „Glück für jeden“.

Der Polizist springt vom Wagen und baut sich vor ihr auf. Seine Nähe lässt ihr kaum Luft zum Atmen. Wie angewurzelt steht sie vor ihm. Tränen in den Augen. Er wartet. Sagt nichts. Sie weiß, was zu tun ist.

„Verflucht, sie wollen Geld, immer wieder Geld“, schimpft einer der Barbesitzer. Die Säuberungsaktion gebe diesen Typen nur einen weiteren Vorwand, Schmiergelder einzusacken. Die Pläne aufzuräumen liefen dabei ins Leere. Aber was soll er sich beschweren. Seine Kontakte sind ausreichend gut. Und er zahlt natürlich auch seinen Teil. So ist die Realität. „Wenn du Geschäfte machen willst, brauchst du Geld. Und wenn du kein Geld hast, dann sitzt du hier sowieso im Dreck.“  ...

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André Lützen

Public Private Hanoi

Kehrer Verlag, 2010

ISBN 978-3868281507 

Fotos: © André Lützen

Text: © Nora Luttmer