Drive thru'

Reise durch die Untiefen einer Weltmacht. 6.348 Meilen vom Colorado bis zum Mississippi, von der Wüste in die Subtropen – knapp vorbei an Hollywood.

(Auszug)

Theater, das an niemanden persönlich gerichtet ist, wahllos ausgeteilt an die staunende Menge. Glut brodelt, Lava fließt, Funken sprühen. Wasserfontänen steigen in den Himmel. Die blutroten Segel gehisst, gleitet das Piratenschiff durch die dunkle Nacht. Dann knallen Blitze. Frauen schreien schrill. An Deck eines zweiten Hochseeseglers räkeln sich Sirenen in glitzernden Bikinis. Die Piraten entern die Wanten, schwitzen, die Hemden weit aufgeknöpft, die Brusthaare gebürstet. Mit einstudierter Eleganz zücken sie Schwerter und feuern Kanonenkugeln ab. Die Sirenen schlagen zurück, biegen sich wendig, zischen, kratzen.

Der Strip von Las Vegas ist eine einzige Open-Air-Show. Glitzer, Feuerwerk und schrammelnde Rockgitarren verwirren unsere vom Jetlag sowieso schon benebelten Sinne. Hamburg – Las Vegas: fünfzehn Stunden Flug, ein Zwischenstopp, neun Stunden Zeitunterschied, ein Kind auf dem Schoß, kein Schlaf.

An diesen ersten Tagen der Reise schimmern die Bilder abseits der großen Bühne nur verschwommen zu uns durch. Erst auf der Fahrt durch die Wüste, die Las Vegas weit umgibt, kommen wir zu uns. Es gibt keinen anderen Ort, der den Menschen so sehr auf sich selbst reduziert, wie Landschaft aus Sand, Wind und Salz. Die Luft schmilzt flimmernd unter der Sonne dahin. Hitze hüllt alles ein, schmiegt sich eng an die Haut. Der Körper scheint zu schweben. Der Blick findet keinen Halt. Bis zum Horizont nur karge Steinfelsen, Geröll und Himmel. Die Furcht kriecht hoch, von dieser endlosen konturenarmen Weite verschluckt zu werden. Doch die Sinne erholen sich. Die Bilder aus der Casinostadt nehmen in der Erinnerung langsam Formen an. Die abgebrochenen Neonbuchstaben über der Hochzeitskapelle hinter dem Strip. Das Mädchen mit den abgelaufenen Turnschuhen, das sich in einen marmornen Mülleimer übergibt. Im Rinnstein die Visitenkarten nackter exotischer Mädchen zu günstigsten Preisen.

Die junge Frau am Einarmigen Banditen, die so dick ist, dass ihre Beine sie nicht mehr tragen, auf der Armlehne ihres Rollstuhls die Halterung mit einem XXL-Becher Coca-Cola, auf dem Schoß eine Fastfood-Tüte. Der Mann neben ihr, sein noch kindliches Gesicht tief eingebettet in einen wabbeligen Rahmen aus überschüssigem Fleisch. Er hat keine Münze mehr und starrt doch mit reglosem Blick auf die rotierenden Scheiben des Spielautomaten. Der Croupier unter dem verschmierten Sonnenschutz einer Bushaltestelle, mit seinen zu langen Armen, den Sneakers und dem gerippten Unterhemd. Sein gesteiftes weißes Hemd hat er sorgfältig über den Arm gelegt, damit er es auf dem Weg an den Roulettetisch nicht verschwitzt. Er riecht billig – nach Rasierwasser und scharfer Seife. Mehrmals dreht er sich um, als fürchte er einen weiteren Zuhörer. Leise sagt er: „Nirgendwo sonst gibt es so viel Arbeit wie hier. Du kannst kommen und noch am selben Tag anfangen zu arbeiten. Aber ich hasse es hier. Las Vegas ist brutal. Kein Wasser. Keine Rehe. Nicht einmal Hunde halten es hier aus. Ich arbeite in einer Scheinwelt mitten in der Wüste. Gott, hier sehe ich, wie Amerika wirklich ist. Hier geht es nur um Geld und Gewinn.“

Irgendwo ist hier vielleicht auch das Paradies – für den einen oder anderen. Aber vor allem ist die Fahrt durch die Wüste eine Fahrt durch eine Todeslandschaft: trocken und erbarmungslos. Die Straßen flirren wie Quecksilber, das gleißende Licht sticht. Wir fahren im klimatisierten Wagen, und doch ahnen wir etwas von den Qualen der Pioniere. Wie sie in klapprigen Karren durch das unwegsame Gelände holperten, in Hosen aus schwerem Leinen, in Korsetts, weißen Röcken und Spitzenhäubchen über dem streng geflochtenen Dutt. Immer die Angst vor den Indianern im Rücken, den Schlangen, dem Durst. Viele sind auf den Trecks gen Westen elend gestorben.

Geisterstädte am Straßenrand erzählen von enttäuschten Hoffnungen. Der brennende Atem der Wüste faucht durch die toten Hüllen von Bahnhöfen, Motels, Tankstellen, Bars. An den Fassaden schimmern noch handgeschriebene Whiskeypreise.

Unmerklich wandelt sich die Landschaft, bis sie plötzlich feuerrot aufbricht. Eine urzeitliche Unterwasserlandschaft. Ozeanische Reliefs auf der Erdoberfläche. Wale und dinosaurierartige Wesen mit dicken Rümpfen und langen Hälsen schwammen hier einst leicht und elegant. Da, wo jetzt der Himmel ist.

Die Erdkruste ist aufgebrochen. Risse ziehen sich über das Plateau. Erste Anzeichen, dass Amerika nicht nur von Horizontalen bestimmt ist. In den Canyons von Arizona löst die Vertikale die Horizontale endgültig ab. Die Welt stürzt in zerklüftete Abgründe. Der französische Philosoph Jean Baudrillard sagte, dass man hier verstehen könne, warum „die Indianer eine Menge Magie und eine nicht wenig grausame Religion brauchten, um eine solche ‚theoretische’ Größe des geologischen und himmlischen Ereignisses Wüste zu bannen, um den Anforderungen einer solchen Umgebung gerecht zu werden.“

Dieses Land war einmal Indianerland. Der Himmel ist zweigeteilt. Links feuriges Rot und klare Konturen. Rechts versinkt die Welt in verschwommenem Schwarzviolett. Schleierwolken werfen ein diffuses Schattenspiel auf den Boden. Trommelschläge dröhnen wie die Hufe von Bisonherden. Die Erde bebt. Staub zieht über die Hochebene. Einzelne rote Felsen ragen gespenstisch empor. Die runden, weichen Körper der Sänger zittern. Aus ihren dicken Bäuchen brummt Gesang. Es ist ein undefinierbares, tiefes Murmeln. Vokalreich und eintönig. Büffeltänzer, mit Hörnern auf den Köpfen und Speeren in den Händen, trampeln und stampfen. Sie wirbeln und springen. Wild, unbändig, schnell, immer schneller. In den Mokassins bewegen sich ihre Füße geräuschlos über den Sandboden. Ein Adler-Tänzer breitet seine Schwingen aus, dreht sich in Trance um sich selbst. Ruhig und majestätisch. „Tanzt weiter, auf dass die Büffel kommen mögen“, beschwört der Zeremonienmeister.

Ein Mikrophon fiept. „Wir danken ihnen im Namen des 6. Star-Feather-Powwow”, sagt der Zeremonienmeister und verwandelt sich sogleich in einen spröden Moderator, der für seine Sponsoren wirbt: Eddy’s Tankstelle, Sam’s Diner, Basha’s Supermarkt. Plötzlich hat der Adler seine Eleganz verloren. Die Tänzer werden träge.

An der Straßenkreuzung leuchten die Bögen von McDonald’s in der Abendsonne. Daneben lockt der „Apachenmarkt“ Freunde des stolzen Winnetou. Bierkisten stapeln sich in der Halle. Die Regale erinnern an ein geplündertes Notlager. Vereinzelte Klopapierrollen und Tütensuppen liegen herum. Der einzige Kunde schleppt seinen fetten Leib zur Kasse und zahlt ein Sixpack Budweiser. Auf dem Parkplatz wiegt er seine Dosen wie ein Neugeborenes in den Armen und hofft auf jemanden, der ihn mitnimmt.

Nur wer sich fast gar nichts leisten kann, hat kein Auto, lebt noch in einem Haus aus Lehm und reitet mit dem Maultier zur Sozialstation. Riten und Gebräuche sind längst Folklore. Der Tanz ist kaum mehr als ein Freizeitspaß. Und auch das nur für eine Elite. Die aufwendigen Kostüme sind teuer, zu teuer für die meisten. Auch das 6. Star-Feather-Powwow wird von indianischen Trachtengruppen bespielt.

„Ein Tanz ist eine religiöse Zeremonie. Verhalten Sie sich still. Applaudieren Sie nicht. Stellen Sie keine Fragen zur Bedeutung eines Tanzes und sprechen Sie weder zu den Tänzern noch zu den Sängern”, steht in der Broschüre des lokalen Fremdenverkehrsamtes. Ich kann dennoch nicht widerstehen. Ich giere nach Geschichten aus erster Hand, hier im Traumland meiner Kindheit. Ich wage mich vor und frage Melissa, eine Hühnertänzerin mit Federn am Po, die ungeduldig auf ihren Auftritt wartet. Die 65-Jährige hat ihr ganzes Leben im Reservat verbracht und ihre Muttersprache ist die Stammessprache, nicht Englisch.

„Was bedeuten die Tänze? Was ist ein Powwow?“

„Powwow?“ Melissa zuckt mit den Schultern und schiebt die Unterlippe trotzig vor. „Keine Ahnung. Vielleicht heißt es so etwas wie sich treffen oder tanzen?“

„Aber die religiöse Bedeutung?“

Keine Antwort, nur ein Stirnrunzeln.

„Aber die Tänze sind religiöse Zeremonien, oder?“

„Davon weiß ich nichts.“

Der erste Tanz ist vorbei. Tosender Applaus verhindert weitere neugierige Worte.

Das Gefühl wird stärker, dass Indianerkultur eine Farce ist – aber eine gute Einnahmequelle. Fünf Dollar Eintritt ins Monument Valley, sechs Dollar zum Antilopen Canyon, zehn Dollar ins Acoma Pueblo. Die Fotoerlaubnis kostet zehn Dollar extra.

Gerry, groß, breit und mit dem milden Lächeln des Besserwissers, ist kostümiert wie ein Medizinmann der Sioux, mit mächtigem, schwarzem Federschmuck über dem langen Zopf. Jede Frage nach Tradition kontert er geschickt mit einer standardisierten Antwort: „Das ist geheim. Unsere Kultur gebietet es uns, darüber mit keinem Außenstehenden zu sprechen.“ Die Powwow-Tänzer salutieren zur Nationalhymne, Hand über dem Herzen. In der Ansprache zum Powwow nennt der Moderator seinen Kampf im Vietnamkrieg seinen Kampf für das Vaterland und lobt die indianisch-stämmigen Iraksoldaten als Helden echt indianischer Art.

Pumaland. Bärenland. „Wie man sich gegenüber einem Puma richtig verhält: stellen Sie sich aufrecht hin, wirken Sie dominant, treten Sie langsam zurück, verfallen Sie nicht in Panik, rennen Sie nicht. Wenn Sie angegriffen werden, kämpfen Sie!“ „Füttern Sie die Bären nicht. Sie sehen niedlich aus. Aber sie sind gefährlich. Lassen Sie keine Lebensmittel offen herumliegen. Wechseln Sie vor dem Schlafen die Kleidung. Bären kommen wegen des Essensgeruchs.“

Schilder am Schwarzen Brett warnen. Trotzdem darf überall gecampt werden. Naturschutzgebiete sind Jedermanns-Land. In der Dämmerung rasseln Klapperschlangen mit ihren Schwänzen. Nachts schreien Luchse. Eine Elchdame stolziert elegant auf langen dünnen Beinen am Campingtisch vorbei. Es riecht nach Tanne, Harz und Holzfeuer.

Das Wohnmobil symbolisiert Freiheit. Acht Millionen stolze Besitzer von Wohnwagen soll es in den USA geben. Das Verzeichnis der Campingplätze ist dick wie zwei New Yorker Telefonbücher. „Das Ideal von Freiheit ist uns angeboren, sonst wären wir wohl nie in Amerika angekommen”, sagt Janice Maeck. „Es ist nicht wie in Europa. Oh, wie gerne würde ich einmal dorthin reisen. Paris. Venedig. Aber so viele Leute, die einmal dort waren, erzählen, dass die Freiheiten so eingeschränkt sind. Dass es bei weitem nicht so ist wie hier. Davor habe ich Angst.“   ...

weiterlesen in:

 

André Lützen

Before Elvis there was nothing

Kehrer Verlag 2008

ISBN 978-3868280067

Fotos: © André Lützen

Text: © Nora Luttmer